Natürlich können wir heute keine Kantianer mehr sein, das wäre anachronistisch. Kant wusste nichts von der Infragestellung der menschlichen Natur durch die Biotechnologie, er konnte sich die Formierung von Geschmack und Urteil durch die Massenmedien (durch social media) nicht vorstellen, die im 20. Jahrhundert stattgefundene und bis heute anhaltende Erosion von Gerechtigkeit und Menschenwürde war für ihn nicht absehbar, die mit der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) verbundenen Gefährdungen waren im 18. Jahrhundert schlicht nicht vorstellbar. Wir könnten aber, einer Empfehlung von Gernot Böhme (1937–2022) folgend, in Analogie zum bekannten Dreischritt aus der Anthropologie von Kant, mit dem dieser der Menschenbildung drei Stufen vorgab: Disziplinierung, Zivilisierung, Moralisierung, ein anderes moralisches Trio entwickeln, das nahe bei Kant angesiedelt ist: „Nötig sind: Selbstsorge im Sinne einer Aneignung dessen, was am Menschen natürlich ist; die Fähigkeit zu Zivilcourage, d. h. zur Abweichung von dem, was gerade üblich ist; moralische Sensibilität, d. h. die Fähigkeit, die moralische Herausforderung einer Situation wahrzunehmen. – An die Stelle des autonomen Vernunftsubjektes als Ideal der Selbstkultivierung tritt der souveräne Mensch.“